Sternstunden der Menschheit - Stefan Zweig
Die Geschichte der transatlantischen Seekabel
Die Verlegung des ersten Transatlantikkabels stellt den Beginn der globalen Kommunikation zwischen Europa und Amerika dar. Der Visionär Cyrus W. Field mußte erst einige Fehlversuche erleiden, bevor 1866 eine dauerhafte Verbindung zwischen den beiden Kontinenten zustande kam. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig erzählt das spannende Abenteuer in seinem Büchlein "Sternstunden der Menschheit" in einer wundervollen Sprache.
Kapitel 10 aus "Sternstunden der Menschheit" von Stefan Zweig
Mit freundlicher Genehmingung von Projekt Gutenberg-DE
"Das Erste Wort über den Ozean"
Cyrus W. Field, 28. Juli 1858
Der neue Rhythmus
Während all der Tausende und vielleicht Hunderttausende von Jahren, seit das sonderbare Wesen, genannt Mensch, die Erde beschreitet, hatte kein anderes Höchstmaß irdischer Fortbewegung gegolten als der Lauf des Pferdes, das rollende Rad, das geruderte oder segelnde Schiff. Alle die Fülle des technischen Fortschritts innerhalb jenes schmalen, vom Bewußtsein belichteten Raumes, den wir Weltgeschichte nennen, hatte keine merkbare Beschleunigung im Rhythmus der Bewegung gezeitigt. Die Armeen Wallensteins kamen kaum rascher vorwärts als die Legionen Cäsars, die Armeen Napoleons brachen nicht rapider vor als die Horden Dschingis-Khans, die Korvetten Nelsons durchquerten das Meer nur um weniges rascher als die Raubboote der Wikinger und die Handelsschiffe der Phönizier. Ein Lord Byron bewältigt auf seiner Childe-Harold-Fahrt nicht mehr Meilen im Tag als Ovidius auf seinem Wege ins poetische Exil, Goethe reist im achtzehnten Jahrhundert nicht wesentlich bequemer oder geschwinder als der Apostel Paulus zu Anfang des Jahrtausends. Unverändert weit liegen die Länder in Raum und Zeit voneinander geschieden im Zeitalter Napoleons wie unter dem römischen Imperium; noch obsiegt der Widerstand der Materie über den menschlichen Willen.
Erst das neunzehnte Jahrhundert verändert fundamental Maß und Rhythmus der irdischen Geschwindigkeit. In seinem ersten und zweiten Jahrzehnt rücken die Völker, die Länder rascher aneinander als vordem in Jahrtausenden; durch die Eisenbahn, durch das Dampfboot werden Tagereisen von vordem in einem einzigen Tag, bisher endlose Reisestunden in Viertelstunden und Minuten bewältigt. Aber so triumphal auch von den Zeitgenossen diese neuen Beschleunigungen durch die Eisenbahn und das Dampfboot empfunden werden, diese Erfindungen liegen immerhin noch im Bereich der Faßbarkeit. Denn diese Vehikel verfünffachen, verzehnfachen, verzwanzigfachen doch nur die bisher gekannten Geschwindigkeiten, der äußere Blick und der innere Sinn vermag ihnen noch zu folgen und sich das scheinbare Wunder zu erklären. Völlig unvermutet aber in ihren Auswirkungen erscheinen die ersten Leistungen der Elektrizität, die, ein Herkules schon in der Wiege, alle bisherigen Gesetze umstößt, alle gültigen Maße zertrümmert. Nie werden wir Späteren das Staunen jener Generation über die ersten Leistungen des elektrischen Telegraphen nachzufühlen vermögen, die ungeheure und begeisterte Verblüffung, daß eben derselbe kleine, kaum fühlbare elektrische Funke, der gestern von der Leidener Flasche gerade noch einen Zoll weit bis zum Fingerknöchel hinüberzuknistern vermochte, mit einmal die dämonische Kraft gewonnen hat, Länder, Berge und ganze Erdteile zu überspringen. Daß der noch kaum zu Ende gedachte Gedanke, das noch feucht hingeschriebene Wort in derselben Sekunde schon Tausende Meilen weit empfangen, gelesen, verstanden werden kann und daß der unsichtbare Strom, der zwischen den beiden Polen der winzigen Voltaschen Säule schwingt, ausgespannt zu werden vermag über die ganze Erde von ihrem einen bis zum andern Ende. Daß der Spielzeugapparat der Physikstube, gestern gerade noch fähig, durch Reibung einer Glasscheibe ein paar Papierstückchen an sich zu ziehen, potenziert werden könnte zum Millionenfachen und Milliardenfachen menschlicher Muskelkraft und Geschwindigkeit, Botschaften bringend, Bahnen bewegend, Straßen und Häuser mit Licht erhellend und wie Ariel unsichtbar die Luft durchschwebend. Erst durch diese Entdeckung hat die Relation von Raum und Zeit die entscheidendste Umstellung seit Erschaffung der Welt erfahren.
Dieses weltbedeutsame Jahr 1837, da zum erstenmal der Telegraph das bisher isolierte menschliche Erleben gleichzeitig macht, wird selten in unseren Schulbüchern auch nur vermerkt, die es leider noch immer für wichtiger halten, von Kriegen und Siegen einzelner Feldherren und Nationen zu erzählen statt von den wahrhaften, weil gemeinsamen Triumphen der Menschheit. Und doch ist kein Datum der neueren Geschichte an psychologischer Weitwirkung dieser Umstellung des Zeitwertes zu vergleichen. Die Welt ist verändert, seit es möglich ist, in Paris gleichzeitig zu wissen, was in Amsterdam, Moskau und Neapel und Lissabon in derselben Minute geschieht. Nur ein letzter Schritt ist noch zu tun, dann sind auch die andern Weltteile einbezogen in jenen großartigen Zusammenhang und ein gemeinsames Bewußtsein der ganzen Menschheit geschaffen.
Aber noch widerstrebt die Natur dieser letzten Vereinigung, noch stemmt sie ein Hindernis entgegen, noch bleiben zwei Jahrzehnte lang alle jene Länder abgeschaltet, die durch das Meer voneinander geschieden sind. Denn während an den Telegraphenstangen dank der isolierenden Porzellanglocken der Funke ungehemmt weiterspringt, saugt das Wasser den elektrischen Strom an sich. Eine Leitung durch das Meer ist unmöglich, als noch nicht ein Mittel erfunden ist, um die kupfernen und eisernen Drähte im nassen Element vollkommen zu isolieren.
Glücklicherweise reicht nun in den Zeiten des Fortschritts eine Erfindung der anderen hilfreich die Hand. Wenige Jahre nach der Einführung des Landtelegraphen wird das Guttapercha entdeckt als der geeignete Stoff, elektrische Leitungen im Wasser zu isolieren; nun kann man beginnen, das wichtigste Land jenseits des Kontinents, England, an das europäische Telegraphennetz anzuschließen. Ein Ingenieur, namens Brett, legt an der gleichen Stelle, wo Blériot in spätern Tagen als erster den Kanal mit einem Flugzeug überfliegen wird, das erste Kabel. Ein tölpischer Zwischenfall vereitelt noch das sofortige Gelingen, denn ein Fischer in Boulogne, der meint, einen besonders fetten Aal gefunden zu haben, reißt das schon gelegte Kabel heraus. Aber am 13. November 1851 gelingt der zweite Versuch. Damit ist England angeschlossen und dadurch Europa erst wahrhaft Europa, ein Wesen, das mit einem einzigen Gehirn, einem einzigen Herzen gleichzeitig alles Geschehen der Zeit erlebt. Ein so ungeheurer Erfolg innerhalb so weniger Jahre – denn was bedeutet ein Jahrzehnt anderes als einen Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit? – muß selbstverständlich maßlosen Mut in jener Generation erwecken. Alles gelingt, was man versucht, und alles traumhaft geschwind. Ein paar Jahre nur, und England ist seinerseits wieder mit Irland, Dänemark mit Schweden, Korsika mit dem Festland telegraphisch verbunden, und schon tastet man aus, um Ägypten und damit Indien dem Netz anzuschließen.
Ein Erdteil aber, und zwar gerade der wichtigste, scheint zu dauerndem Ausschluß von dieser weltumspannenden Kette verurteilt: Amerika. Denn wie den Atlantischen Ozean oder den Pazifischen, die beide in ihrer endlosen Breite keine Zwischenstationen erlauben, mit einem einzigen Drahte durchspannen? In jenen Kinderjahren der Elektrizität sind noch alle Faktoren unbekannt. Noch ist die Tiefe des Meeres nicht ausgemessen, noch kennt man nur ungenau die geologische Struktur des Ozeans, noch ist völlig unerprobt, ob ein in solche Tiefe gelegter Draht den Druck so unendlich getürmter Wassermassen ertragen könnte. Und selbst wenn es technisch möglich wäre, ein derart endloses Kabel sicher in solche Tiefen hinabzubetten, wo ist ein Schiff von solcher Größe, daß es die Eisen- und Kupferlast von zweitausend Meilen Draht in sich aufzunehmen vermöchte? Wo die Dynamos von solcher Kraft, daß sie einen elektrischen Strom ungebrochen eine Distanz hinüberzuschicken vermöchten, die mit dem Dampfboot zu durchfahren man noch mindestens zwei bis drei Wochen benötigt? Alle Voraussetzungen fehlen. Noch ist unbekannt, ob nicht in der Tiefe des Weltmeeres magnetische Ströme kreisen, die den elektrischen Strom ablenken könnten, noch besitzt man keine zureichende Isolation, keine richtigen Meßapparate, noch kennt man nur die Anfangsgesetze der Elektrizität, die gerade die Augen auf getan aus ihrem hundertjährigen Schlaf von Unbewußtheit. »Unmöglich! Absurd!« winken darum die Gelehrten heftig ab, sowie man den Plan der Ozeanüberspannung nur erwähnt. »Später vielleicht«, meinen die mutigsten unter den Technikern. Selbst Morse, dem Manne, dem der Telegraph bisher seine größte Vollendung verdankt, erscheint der Plan als unberechenbares Wagnis. Aber prophetisch fügt er bei, im Falle des Gelingens würde die Legung des transatlantischen Kabels »the great feat of the Century«, die ruhmreichste Tat des Jahrhunderts bedeuten.
Damit ein Wunder oder ein Wunderbares sich vollende, ist immer die erste Vorbedingung der Glaube eines einzelnen an dieses Wunder. Der naive Mut eines Unbelehrbaren vermag gerade dort, wo die Gelehrten zögern, den schöpferischen Anstoß zu geben, und wie meist, bringt auch hier ein simpler Zufall die grandiose Unternehmung in Schwung. Ein englischer Ingenieur, namens Gisborne, der im Jahre 1854 ein Kabel von Neuyork nach dem östlichsten Punkte Amerikas, Neufundland, legen will, damit die Nachrichten von den Schiffen um ein paar Tage früher übernommen werden können, muß mitten im Werke innehalten, weil seine finanziellen Mittel erschöpft sind. So reist er nach Neuyork, um dort Finanzleute zu finden. Dort stößt er durch blanken Zufall, diesen Vater so vieler ruhmreicher Dinge, auf einen jungen Menschen, Cyrus W. Field, einen Pastorssohn, dem in geschäftlichen Unternehmungen so viel und so rasch geglückt ist, daß er sich bereits in jungen Jahren mit einem großen Vermögen ins Privatleben zurückziehen konnte. Diesen Unbeschäftigten, der zu jung und zu energisch ist für dauernde Untätigkeit, sucht Gisborne für die Fertigstellung des Kabels von Neuyork nach Neufundland zu gewinnen. Nun ist Cyrus W. Field – fast sagte man: glücklicherweise! – kein Techniker, kein Fachmann. Er versteht nichts von Elektrizität, er hat nie ein Kabel gesehen. Aber dem Pastorssohn wohnt eine leidenschaftliche Gläubigkeit im Blute, dem Amerikaner der energische Wagemut. Und wo der Fachingenieur Gisborne nur auf das unmittelbare Ziel blickt, Neuyork an Neufundland anzuschließen, sieht der junge, begeisterungsfähige Mensch sofort weiter. Warum nicht gleich dann Neufundland durch ein Unterseekabel mit Irland verbinden? Und mit einer Energie, die entschlossen ist, jedes Hindernis zu überwinden – einunddreißigmal ist jener Mann in diesen Jahren hin und zurück über das Weltmeer zwischen den beiden Erdteilen gefahren –, macht sich Cyrus W. Field sofort ans Werk, ehern entschlossen, von diesem Augenblick an alles, was er in sich und um sich hat, für diese Tat einzusetzen. Damit ist schon jene entscheidende Zündung vollzogen, dank deren ein Gedanke explosive Kraft in der Wirklichkeit gewinnt. Die neue, die wunderwirkende elektrische Kraft hat sich dem andern stärksten dynamischen Element des Lebens verbunden: dem menschlichen Willen. Ein Mann hat seine Lebensaufgabe und eine Aufgabe ihren Mann gefunden.
Die Vorbereitung
Mit unwahrscheinlicher Energie macht sich Cyrus W. Field ans Werk. Er setzt sich mit allen Fachleuten in Verbindung, bestürmt die Regierungen um die Konzessionen, führt in beiden Weltteilen eine Kampagne, um das nötige Geld aufzubringen, und so stark ist die Stoßkraft, die von diesem völlig unbekannten Manne ausgeht, so passionierend seine innere Überzeugung, so gewaltig der Glaube an die Elektrizität als neue Wunderkraft, daß das Grundkapital von dreihundertfünfzigtausend Pfund in England innerhalb weniger Tage voll gezeichnet wird. Es genügt, in Liverpool, in Manchester und London die reichsten Kaufleute zur Gründung der Telegraph Construction and Maintenance Company zusammenzurufen, und das Geld strömt ein. Aber auch die Namen Thackerays und der Lady Byron, die ohne jeden geschäftlichen Nebenzweck und nur aus moralischem Enthusiasmus das Werk fördern wollen, findet man unter den Zeichnern; nichts veranschaulicht so sehr den Optimismus für alles Technische und Maschinelle, der im Zeitalter Stevensons, Brunels und der andern großen Ingenieure England beseelte, als daß ein einziger Anruf genügt, um einen so enormen Betrag für ein völlig phantastisches Unternehmen à fonds perdu bereitzustellen.
Denn die ungefähren Kosten der Kabellegung sind so ziemlich das einzige verläßliche Errechenbare bei diesem Beginnen. Für die eigentliche technische Durchführung gibt es keinerlei Vorbild. In ähnlichen Dimensionen ist im neunzehnten Jahrhundert noch nie gedacht und geplant worden. Denn wie diese Überspannung eines ganzen Ozeans vergleichen mit der Überbrückung jenes schmalen Wasserstreifens zwischen Dover und Calais? Dort hatte es genügt, vom offenen Deck eines gewöhnlichen Raddampfers dreißig und vierzig Meilen abzuspulen, und das Kabel rollte gemächlich ab wie der Anker von seiner Winde. Bei der Kabellegung im Kanal konnte man in Ruhe einen besonders stillen Tag abwarten, man kannte genau die Tiefe des Meeresgrundes, blieb ständig in Sicht des einen oder des andern Ufers und damit jedem gefährlichen Zufall entrückt; innerhalb eines einzigen Tages konnte bequem die Verbindung geleistet werden. Während einer Überfahrt aber, die zum mindesten drei Wochen ständiger Fahrt voraussetzt, kann eine hundertfach längere, hundertfach gewichtigere Spule nicht offen auf Deck allen Unbilden der Witterung ausgesetzt bleiben. Kein Schiff der damaligen Zeit ist außerdem groß genug, um in seinem Laderaum diesen gigantischen Kokon aus Eisen, Kupfer und Guttapercha aufnehmen zu können, keines mächtig genug, um diese Last zu ertragen. Zwei Schiffe zumindest sind vonnöten, und diese Hauptschiffe müssen wieder begleitet sein von andern, damit der kürzeste Kurs genau eingehalten und bei Zwischenfällen Hilfe geleistet werden könne. Zwar stellt die englische Regierung für diesen Zweck die »Agamemnon« bei, eines ihrer größten Kriegsschiffe, das als Flaggschiff vor Sebastopol gefochten, und die amerikanische Regierung die »Niagara«, eine Fünftausendtonnen-Fregatte (damals das gewaltigste Ausmaß). Aber beide Schiffe müssen erst eigens umgebaut werden, um jedes die Hälfte der endlosen Kette, welche zwei Erdteile miteinander verbinden soll, in sich zu verstauen.
Das Hauptproblem freilich bleibt das Kabel selbst. Unausdenkbare Anforderung ist an diese gigantische Nabelschnur zwischen zwei Weltteilen gestellt. Denn dieses Kabel muß einerseits fest und unzerreißbar sein wie ein stählernes Tau und gleichzeitig elastisch bleiben, um leicht ausgelegt werden zu können. Es muß jeden Druck aushalten, jede Belastung bestehen und doch sich glatt abschnurren lassen wie ein Seidenfaden. Es muß massiv sein und doch nicht zu füllig, einerseits solid und anderseits doch so exakt, um die leiseste elektrische Welle über zweitausend Meilen hinüberschwingen zu lassen. Der kleinste Riß, die winzigste Unebenheit an irgendeiner einzelnen Stelle dieses Riesenseils kann schon die Übermittlung auf diesem Vierzehn-Tage-Wege zerstören.
Aber man wagt's! Tag und Nacht spinnen jetzt die Fabriken, der dämonische Wille dieses einen Menschen treibt alle Räder vorwärts. Ganze Bergwerke von Eisen und Kupfer werden verbraucht für diese eine Schnur, ganze Wälder von Gummibäumen müssen bluten, um die Guttaperchahülle zu schaffen auf so riesige Distanz. Und nichts veranschaulicht sinnlicher die enormen Proportionen der Unternehmung, als daß dreihundertsiebenundsechzigtausend Meilen einzelnen Drahtes in dieses eine Kabel versponnen werden, dreizehnmal soviel, als genügte, die ganze Erde zu umspannen, und genug, um in einer Linie die Erde mit dem Mond zu verbinden. Seit dem Turmbau von Babel hat die Menschheit im technischen Sinne nichts Grandioseres gewagt.
Der erste Start
Ein Jahr lang sausen die Maschinen, unablässig spult sich wie ein dünner, fließender Faden der Draht aus den Fabriken in das Innere der beiden Schiffe, und endlich, nach tausend und tausend Umdrehungen, ist je eine Hälfte des Kabels in je einem der Schiffe zur Spule zusammengerollt. Konstruiert und schon aufgestellt sind auch die neuen, schwerfälligen Maschinen, die, mit Bremsen und Rücklauf versehen, in einem Zug nun eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen lang ununterbrochen das Kabel hinabsenken sollen in die Tiefe des Weltmeeres. Die besten Elektriker und Techniker, darunter Morse selbst, sind an Bord versammelt, um dauernd mit ihren Apparaten während der ganzen Auslegung zu kontrollieren, ob der elektrische Strom nicht ins Stocken gerät, Reporter und Zeichner haben sich der Flotte zugesellt, um mit Wort und Schrift diese aufregendste Ausfahrt seit Kolumbus und Magalhães zu schildern.
Endlich ist alles zur Abfahrt bereit, und während bislang die Zweifler die Oberhand behielten, wendet sich nun das öffentliche Interesse ganz Englands leidenschaftlich der Unternehmung zu. Hunderte kleiner Boote und Schiffe umkreisen am 5. August 1857 im kleinen irländischen Hafen von Valentia die Kabelflotte, um den welthistorischen Augenblick mitzuerleben, wie das eine Kabelende von Booten an die Küste geschafft und in der festen Erde Europas verhakt wird. Unwillkürlich gestaltet sich der Abschied zur großen Feierlichkeit. Die Regierung hat Vertreter entsandt, Reden werden gehalten, in einer ergreifenden Ansprache erbittet der Priester den Segen Gottes für das kühne Unterfangen. »O ewiger Gott«, beginnt er, »der du allein die Himmel ausbreitest und den Aufschwall der See beherrschst, du, dem die Winde und die Fluten gehorchen, blicke in Barmherzigkeit nieder auf deine Diener ... Gebiete mit deinem Gebot jedem Hindernis, beseitige jeden Widerstand, der uns in der Vollendung dieses wichtigen Werkes hemmen könnte.« Und dann winken noch vom Strande und vom Meer Tausende Hände und Hüte. Langsam verdämmert das Land. Einer der kühnsten Träume der Menschheit versucht Wirklichkeit zu werden.
Mißgeschick
Ursprünglich war geplant worden, die beiden großen Schiffe, die »Agamemnon« und die »Niagara«, deren jedes eine Hälfte des Kabels in sich trägt, sollten gemeinsam bis zu einem vorausberechneten Punkt in der Mitte des Ozeans fahren und dort erst die Vernietung der beiden Hälften stattfinden. Dann hätte das eine Schiff nach Westen gegen Neufundland zu steuern, das andere nach Osten gegen Irland. Aber zu verwegen schien es, gleich das ganze kostbare Kabel an diesen ersten Versuch zu wagen; so zog man vor, vom Festland aus die erste Strecke zu legen, solange man noch nicht gewiß war, ob eine telegraphische Untersee-Übertragung auf solche Distanzen überhaupt noch richtig funktionierte.
Von den beiden Schiffen ist der »Niagara« die Aufgabe zugefallen, vom Festland aus das Kabel bis in die Mitte des Meeres zu legen. Langsam, vorsichtig steuert die amerikanische Fregatte dahin, wie eine Spinne aus ihrem gewaltigen Leibe den Faden ständig hinter sich zurücklassend. Langsam, regelmäßig rattert an Bord die Auslegemaschine – es ist das alte, allen Seeleuten wohlbekannte Geräusch eines abrollenden Ankertaues, das sich von der Winde niederdreht. Und nach wenigen Stunden achten die Leute an Bord auf dies regelmäßig mahlende Geräusch schon ebensowenig wie auf ihren eigenen Herzschlag.
Weiter, weiter hinaus in die See, ständig, ständig das Kabel hinab hinter dem Kiel. Gar nicht abenteuerlich scheint dieses Abenteuer. Nur in einer besonderen Kammer sitzen und horchen die Elektriker, ständig Zeichen mit dem irischen Festlande tauschend. Und wunderbar: obwohl man längst die Küste nicht mehr erblickt, funktioniert die Übertragung auf dem Unterwasser-Kabel genau so deutlich, als ob man von einer europäischen Stadt zur andern sich verständigte. Schon sind die seichten Wasser verlassen, schon das sogenannte Tiefseeplateau, das hinter Irland sich erhebt, teilweise überquert, und noch immer läuft wie Sand aus der Sanduhr regelmäßig die metallene Schnur hinter dem Kiel herab, gleichzeitig Botschaft gebend und Botschaft empfangend.
Schon sind dreihundertfünfunddreißig Meilen gelegt, mehr also als die zehnfache Distanz von Dover nach Calais, schon sind fünf Tage, fünf Nächte erster Unsicherheit überstanden, schon bettet sich am sechsten Abend, am 11. August, Cyrus W. Field nach vielstündiger Arbeit und Aufregung zu berechtigter Ruhe. Da plötzlich – was ist geschehen? – stoppt das ratternde Geräusch. Und wie ein Schlafender auffährt im fahrenden Zuge, wenn die Lokomotive unerwarteterweise stoppt, wie der Müller aufschreckt im Bette, wenn das Mühlrad plötzlich stehenbleibt, so sind im Nu alle auf dem Schiff wach und stürzen auf Deck. Der erste Blick auf die Maschine zeigt: der Auslauf ist leer. Das Kabel ist plötzlich der Winde entschlüpft; unmöglich war es, das losgerissene Ende noch rechtzeitig aufzufangen, und noch unmöglicher ist es jetzt, das verlorene Ende in der Tiefe zu finden und wieder heraufzuholen. Das Entsetzliche ist geschehen. Ein kleiner technischer Fehler hat die Arbeit von Jahren vernichtet. Als Besiegte kehren die so verwegen Ausgefahrenen nach England zurück, wo das plötzliche Verstummen aller Zeichen und Signale auf schlimme Kunde schon vorbereitet hat.
Noch einmal Mißgeschick
Cyrus Field, der einzig Unerschütterliche, Held und Kaufmann zugleich, macht Bilanz. Was ist verloren? Dreihundert Meilen Kabel, etwa hunderttausend Pfund des Aktienkapitals und, was ihn vielleicht noch mehr bedrückt, ein ganzes, ein unersetzliches Jahr. Denn nur im Sommer kann die Expedition auf günstiges Wetter hoffen, und diesmal ist die Jahreszeit schon zu weit vorgeschritten. Auf dem andern Blatt steht ein kleiner Gewinn. Man hat ein gutes Stück praktischer Erfahrung bei diesem ersten Versuch gewonnen. Das Kabel selbst, das sich als tauglich erwiesen, kann aufgewickelt werden und für die nächste Expedition verstaut. Geändert müssen nur die Auslegemaschinen werden, die den verhängnisvollen Bruch verschuldet haben. So vergeht mit Warten und Vorarbeiten wieder ein Jahr. Erst am 10. Juni 1858 können, mit neuem Mut und mit dem alten Kabel befrachtet, dieselben Schiffe wieder ausfahren. Und da die elektrische Zeichenübertragung bei der ersten Reise klaglos funktioniert hat, ist man zum alten Plane zurückgekehrt, die Kabellegung von der Mitte des Weltmeeres aus nach beiden Seiten zu beginnen. Die ersten Tage dieser neuen Reise vergehen bedeutungslos. Erst am siebenten Tag soll ja an der vorher berechneten Stelle die Kabellegung und damit die eigentliche Arbeit beginnen. Bishin ist oder scheint alles eine Spazierfahrt. Die Maschinen stehen unbeschäftigt, die Matrosen können noch rasten und sich des freundlichen Wetters erfreuen, wolkenlos ist der Himmel und still, vielleicht allzu still, die See.
Aber am dritten Tage fühlt der Kapitän der »Agamemnon« heimliche Unruhe. Ein Blick auf das Barometer hat ihm gezeigt, mit welcher beängstigenden Geschwindigkeit die Quecksilbersäule sinkt. Ein Unwetter besonderer Art muß im Anzug sein, und tatsächlich bricht am vierten Tage ein Sturm los, wie ihn selbst die erprobtesten Seeleute im Atlantischen Ozean nur selten erlebt. Am verhängnisvollsten trifft dieser Orkan gerade das englische Auslegeschiff, die »Agamemnon«. An sich ein vortreffliches Fahrzeug, das auf allen Meeren und auch im Kriege die härtesten Proben bestanden, müßte das Admiralsschiff der englischen Marine auch diesem schlimmen Wetter gewachsen sein. Aber unseligerweise ist das Schiff für die Kabellegung völlig umgebaut worden, um die riesige Last in sich bergen zu können. Nicht wie auf einem Frachtschiff konnte man hier das Gewicht nach allen Seiten gleichmäßig auf den Laderaum verteilen, sondern in der Mitte lastet das ganze Gewicht der riesigen Spule, und nur einen Teil hat man ganz im Vorderschiff untergebracht, was die noch ärgere Folge hat, daß bei jedem Auf und Nieder die Pendelschwingung verdoppelt wird. So kann das Unwetter gefährlichstes Spiel mit seinem Opfer treiben; zur Rechten, zur Linken, nach vorn und rückwärts wird das Schiff bis zu einem Winkel von fünfundvierzig Grad gehoben, Sturzwellen überfluten das Deck, alle Gegenstände werden zerschmettert. Und neues Verhängnis – bei einem der fürchterlichsten Stöße, die das Schiff vom Kiel bis zum Mast erschüttern, gibt der Verschlag der auf das Deck gehäuften Kohlenladung nach. In einem schwarzen Hagel schmettert die ganze Masse wie ein Steinschlag auf die schon ohnehin blutenden und erschöpften Matrosen. Einige werden im Hinsturz verwundet, andere in der Küche durch die überschlagenden Kessel verbrüht. Ein Matrose wird wahnsinnig im zehntägigen Sturm, und schon denkt man an das Äußerste: einen Teil der verhängnisvollen Kabellast über Bord zu werfen. Glücklicherweise widerstrebt der Kapitän, diese Verantwortung auf sich zu nehmen, und er behält recht. Die »Agamemnon« übersteht nach unsäglichen Prüfungen den zehntägigen Sturm und kann trotz starker Verspätung die andern Schiffe an der vereinbarten Stelle inmitten des Weltmeeres wiederfinden, an der die Kabellegung beginnen soll.
Aber jetzt zeigt sich erst, wie sehr die kostbare und empfindliche Fracht der tausendfach verschlungenen Drähte durch das fortwährende Schleudern gelitten hat. An einigen Stellen haben sich die Stränge verwirrt, die Guttaperchahülle ist zerrieben oder zerrissen. Mit wenig Vertrauen unternimmt man einige Versuche, das Kabel trotzdem auszulegen, doch sie zeitigen nur einen Verlust von etwa zweihundert Meilen Kabel, die nutzlos im Meer verschwinden. Zum zweitenmal heißt es die Flagge streichen und ruhmlos heimkehren statt im Triumph.
Die dritte Fahrt
Mit blassen Gesichtern erwarten, schon von der Unglücksnachricht verständigt, die Aktionäre in London ihren Führer und Verführer Cyrus W. Field. Die Hälfte des Aktienkapitals ist auf diesen beiden Fahrten vertan und nichts bewiesen, nichts erreicht; man versteht, daß die meisten nun sagten: Genug! Der Vorsitzende rät, man solle retten, was zu retten sei. Er stimme dafür, den Rest des unbenutzten Kabels von den Schiffen zu holen und notfalls auch mit Verlust zu verkaufen, dann aber einen Strich unter diesen wüsten Plan der Ozeanüberspannung zu machen. Der Vizepräsident schließt sich ihm an und sendet schriftlich seine Demission, um darzutun, daß er mit diesem absurden Unternehmen weiter nichts mehr zu tun haben wolle. Aber die Zähigkeit und der Idealismus Cyrus W. Fields sind nicht zu erschüttern. Nichts sei verloren, erklärt er. Das Kabel selbst habe glänzend die Probe bestanden und genug noch an Bord, um den Versuch zu erneuern, die Flotte sei versammelt, die Mannschaften angeheuert. Gerade das ungewöhnliche Unwetter der letzten Fahrt lasse jetzt auf eine Periode schöner, windstiller Tage hoffen. Nur Mut, noch einmal Mut! Jetzt oder nie sei Gelegenheit, auch das Letzte zu wagen.
Immer unsicherer sehen sich die Aktionäre an: sollen sie das letzte des eingezahlten Kapitals diesem Narren anvertrauen? Aber da ein starker Wille Zögernde schließlich doch immer mit sich fortreißt, erzwingt Cyrus W. Field die neuerliche Ausfahrt. Am 17. Juli 1858, fünf Wochen nach der zweiten Unglücksfahrt, verläßt die Flotte zum drittenmal den englischen Hafen.
Und nun bestätigt sich abermals die alte Erfahrung, daß die entscheidenden Dinge fast immer im geheimen gelingen. Diesmal geht die Abfahrt völlig unbeachtet vor sich; keine Boote, keine Barken umkreisen glückwünschend die Schiffe, keine Menge versammelt sich am Strand, kein festliches Abschiedsdiner wird gegeben, keine Reden gehalten, kein Priester fleht den Beistand Gottes herab. Wie zu einem piratischen Unternehmen, scheu und schweigsam fahren die Schiffe aus. Aber freundlich erwartet sie die See. Genau am vereinbarten Tage, am 28. Juli, elf Tage nach der Abfahrt von Queenstown, können die »Agamemnon« und die »Niagara« an der vereinbarten Stelle in der Mitte des großen Ozeans die große Arbeit beginnen. Seltsames Schauspiel – Heck gegen Heck wenden sich die Schiffe einander zu. Zwischen beiden werden nun die Enden des Kabels vernietet. Ohne jede Förmlichkeit, ja ohne sogar daß die Leute an Bord dem Vorgang wesentliches Interesse schenken (sie sind schon so abgemüdet von den erfolglosen Versuchen), sinkt das eiserne und kupferne Tau zwischen den beiden Schiffen in die Tiefe bis zu dem untersten, von keinem Lot noch erforschten Grund des Ozeans. Dann noch eine Begrüßung von Bord zu Bord, von Flagge zu Flagge, und das englische Schiff steuert England, das amerikanische Amerika zu. Während sie sich voneinander entfernen, zwei wandernde Punkte im unendlichen Ozean, hält das Kabel sie ständig verbunden – zum erstenmal seit Menschengedenken können zwei Schiffe sich miteinander über Wind und Welle und Raum und Ferne im Unsichtbaren verständigen. Jede paar Stunden meldet das eine mit elektrischem Signal aus der Tiefe des Ozeans die zurückgelegten Meilen, und jedesmal bestätigt das andere, daß es ebenfalls dank des trefflichen Wetters die gleiche Strecke geleistet. So vergeht ein Tag und ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Am 5. August kann endlich die »Niagara« melden, daß sie in Trinity Bay auf Neufundland die amerikanische Küste vor sich sehe, nachdem sie nicht weniger als tausendunddreißig Meilen Kabel gelegt hat, und ebenso kann die »Agamemnon« triumphieren, die gleichfalls an tausend Meilen sicher in die Tiefe gebettet, sie habe ihrerseits die irische Küste in Sicht. Zum erstenmal verständigt sich jetzt das menschliche Wort von Land zu Land, von Amerika nach Europa. Aber nur diese beiden Schiffe, die paar hundert Menschen in ihrem hölzernen Gehäuse wissen, daß die Tat getan ist. Noch weiß es nicht die Welt, die längst dieses Abenteuer vergessen. Niemand erwartet sie am Strand, nicht in Neufundland, nicht in Irland: aber in der einen Sekunde, da das neue Ozeankabel an das Landkabel sich anschließt, wird die ganze Menschheit von ihrem gewaltigen gemeinsamen Sieg wissen.
Das große Hosianna
Gerade weil dieser Blitz der Freude aus völlig heiterem Himmel herabfährt, zündet er so ungeheuer. Fast zur gleichen Stunde erfahren in den ersten Augusttagen der alte und der neue Kontinent die Botschaft des gelungenen Werkes; die Wirkung ist eine unbeschreibliche. In England leitartikelt die sonst so bedächtige Times: »Since the discovery of Columbus, nothing has been done in any degree comparable to the vast enlargement which has thus been given to the sphere of human activity.« »Seit der Entdeckung des Kolumbus ist nichts geschehen, was in irgendeiner Weise vergleichbar wäre dieser gewaltigen Erweiterung der Sphäre menschlicher Tätigkeit.« Und die City ist in hellster Erregung. Aber schattenhaft und scheu scheint diese stolze Freude Englands, verglichen mit der orkanischen Begeisterung Amerikas, kaum daß dort die Nachricht übermittelt wird. Sofort stocken die Geschäfte, die Straßen sind überflutet mit fragenden, lärmenden, diskutierenden Menschen. Über Nacht ist ein völlig unbekannter Mann, Cyrus W. Field, zum Nationalhelden eines ganzen Volkes geworden. Franklin und Kolumbus wird er emphatisch zur Seite gestellt, die ganze Stadt und hinter ihr hundert andere beben und dröhnen von Erwartung, den Mann zu sehen, der »die Vermählung des jungen Amerika und der Alten Welt« durch seine Entschlossenheit vollzogen. Aber noch hat die Begeisterung nicht den höchsten Grad erreicht, denn nichts als die dürre Meldung ist ja vorläufig eingetroffen, daß das Kabel gelegt sei. Aber kann es auch sprechen? Ist die Tat, die eigentliche, gelungen? Grandioses Schauspiel – eine ganze Stadt, ein ganzes Land wartet und lauscht auf ein einziges, auf das erste Wort über den Ozean. Man weiß, die englische Königin wird allen voran ihre Botschaft, ihren Glückwunsch sagen, jede Stunde erwartet man sie ungeduldiger. Aber es vergehen noch Tage und Tage, weil durch einen unglücklichen Zufall gerade das Kabel nach Neufundland gestört ist, und es dauert bis zum 16. August, bis die Botschaft der Königin Viktoria in den Abendstunden in Neuyork eintrifft.
Zu spät freilich, als daß die Zeitungen die offizielle Mitteilung bringen könnten, kommt die ersehnte Nachricht; nur angeschlagen kann sie werden an den Telegraphenämtern und Redaktionen, und sofort stauen sich ungeheure Massen. Zerschunden und mit zerrissenen Kleidern müssen sich die Newspaper Boys durch das Getümmel durchschlagen. In den Theatern, in den Restaurants wird die Botschaft verkündet. Tausende, die noch nicht fassen können, daß der Telegraph dem schnellsten Schiff um Tage vorauseilt, stürmen zu dem Hafen von Brooklyn, um das Heldenschiff dieses friedlichen Sieges, die »Niagara«, zu begrüßen. Am nächsten Tage dann, am 17. August, jubeln die Zeitungen mit faustdicken Überschriften: »The cable in perfect working order«, »Everybody crazy with joy«, »Tremendous Sensation throughout the city«, »Now's the time for an universal jubilee«. Triumph ohnegleichen: Seit Anfang alles Denkens auf Erden hat ein Gedanke mit seiner eigenen Geschwindigkeit über das Weltmeer sich geschwungen. Und schon donnern von der Battery hundert Kanonenschüsse, um anzukündigen, daß der Präsident der Vereinigten Staaten der Königin geantwortet habe. Jetzt wagt niemand mehr zu zweifeln; abends strahlen Neuyork und alle andern Städte in Zehntausenden von Lichtern und Fackeln. Jedes Fenster ist beleuchtet, und es stört kaum die Freude, daß dabei die Kuppel der City Hall in Brand gerät. Denn schon der nächste Tag bringt ein neuerliches Fest. Die »Niagara« ist eingetroffen, Cyrus W. Field, der große Held, ist da! Im Triumph wird der Rest des Kabels durch die Stadt geführt und die Mannschaft bewirtet. Tag für Tag wiederholen sich jetzt in jeder Stadt vom Pazifischen Ozean bis zum Golf von Mexiko die Manifestationen, als feierte Amerika zum zweitenmal das Fest seiner Entdeckung.
Aber noch nicht genug und genug! Der eigentliche Triumphzug soll noch grandioser sein, der großartigste, den der neue Weltteil jemals gesehen. Zwei Wochen dauern die Vorbereitungen, dann aber, am 31. August, feiert eine ganze Stadt einen einzigen Menschen, Cyrus W. Field, wie seit den Zeiten der Kaiser und Cäsaren kaum ein Sieger von seinem Volke gefeiert wurde. Ein Festzug wird an diesem herrlichen Herbsttag gerüstet, der so lang ist, daß er sechs Stunden braucht, um von einem Ende der Stadt bis zum andern zu gelangen. Die Regimenter ziehen voran mit Bannern und Fahnen durch die beflaggten Straßen, die Harmoniegesellschaften, die Liedertafeln, die Sängerbünde, die Feuerwehr, die Schulen, die Veteranen folgen in endlosem Zuge. Alles, was marschieren kann, marschiert, jeder, der singen kann, singt, jeder, der jubeln kann, jubelt. Im vierspännigen Wagen, wie ein antiker Triumphator, wird Cyrus W. Field, in einem andern der Kommandant der »Niagara«, in einem dritten der Präsident der Vereinigten Staaten dahingeführt; die Bürgermeister, die Beamten, die Professoren hintendrein. Ununterbrochen folgen sich Ansprachen, Bankette, Fackelzüge, die Kirchenglocken läuten, die Kanonen donnern, neuerdings und neuerdings umrauscht der Jubel den neuen Kolumbus, den Vereiniger der beiden Welten, den Besieger des Raums, den Mann, der in dieser Stunde der ruhmreichste und vergöttertste Mann Amerikas geworden ist, Cyrus W. Field.
Das große Crucifige
Tausende und Millionen Stimmen lärmen und jubeln an diesem Tage. Nur eine einzige und die wichtigste bleibt während dieser Feier merkwürdig stumm – der elektrische Telegraph. Vielleicht ahnt Cyrus W. Field in der Mitte des Jubels schon die fürchterliche Wahrheit, und grauenhaft müßte dies sein für ihn, als einziger zu wissen, daß gerade an diesem Tage das atlantische Kabel aufgehört hat zu funktionieren, daß, nachdem schon in den letzten Tagen nur mehr konfuse und kaum mehr lesbare Zeichen gekommen waren, der Draht endgültig ausgeröchelt hat und seinen letzten, sterbenden Atemzug getan. Noch weiß und noch ahnt von diesem allmählichen Versagen in ganz Amerika niemand als die paar Menschen, die den Empfang der Sendungen in Neufundland kontrollieren, und auch diese zögern noch Tage und Tage angesichts des maßlosen Enthusiasmus, den Jubelnden die bittere Mitteilung zu machen. Bald aber fällt es auf, daß die Nachrichten so spärlich eintreffen. Amerika hatte erwartet, Stunde um Stunde werde jetzt Botschaft über den Ozean blitzen – statt dessen nur ab und zu eine vage und unkontrollierbare Kunde. Es dauert nicht lang, und ein Gerücht flüstert sich herum, man habe im Eifer und der Ungeduld, bessere Übertragungen zu erreichen, zu starke elektrische Ladungen geschickt und damit das ohnehin unzulängliche Kabel verdorben. Noch hofft man die Störung zu beheben. Doch bald ist es nicht mehr zu leugnen, daß die Zeichen immer stammelnder, immer unverständlicher geworden sind. Gerade nach jenem katzenjämmerlichen Festmorgen, am 1. September, kommt kein klarer Ton, keine reine Schwingung mehr über das Meer.
Nichts nun verzeihen die Menschen weniger, als in einer ehrlichen Begeisterung ernüchtert zu werden und von einem Manne, von dem sie alles erwartet, sich hinterrücks enttäuscht zu sehen. Kaum daß sich das Gerücht bewahrheitet, der vielgerühmte Telegraph versage, wirft sich die stürmische Welle des Jubels nun im Rückschlag als bösartige Erbitterung dem unschuldig Schuldigen, Cyrus W. Field, entgegen. Er hat eine Stadt, ein Land, eine Welt betrogen; längst habe er von dem Versagen des Telegraphen gewußt, behauptet man in der City, aber eigensüchtig habe er sich umjubeln lassen und inzwischen die Zeit benützt, um die ihm gehörigen Aktien mit ungeheurem Gewinn loszuschlagen. Sogar noch bösartigere Verleumdungen melden sich, darunter die merkwürdigste von allen, die peremptorisch behauptet, der atlantische Telegraph habe überhaupt nie richtig funktioniert; alle Meldungen seien Schwindel und Humbug gewesen und das Telegramm der Königin von England schon vorher abgefaßt und nie durch den Ozeantelegraph übermittelt gewesen. Keine einzige Nachricht, geht das Gerücht, sei die ganze Zeit über wirklich verständlich über das Meer gekommen, und die Direktoren hätten nur aus Vermutungen und abgerissenen Zeichen imaginäre Depeschen zusammengebraut. Ein wirklicher Skandal bricht los. Gerade die gestern am lautesten gejubelt hatten, toben nun am meisten. Eine ganze Stadt, ein ganzes Land schämt sich seiner überhitzten und voreiligen Begeisterung. Cyrus W. Field wird zum Opfer dieses Zorns ausersehen; der gestern noch als Nationalheld und Heros galt, als Bruder Franklins und Nachfahre des Kolumbus, muß sich vor seinen vormaligen Freunden und Verehrern verbergen wie ein Verbrecher. Ein einziger Tag hat alles geschaffen, ein einziger Tag alles zerstört. Unabsehbar ist die Niederlage, verloren das Kapital, vertan das Vertrauen, und wie die sagenhafte Midgardschlange liegt das unnütze Kabel in den unerschaubaren Tiefen des Weltmeeres.
Sechs Jahre Schweigen
Sechs Jahre liegt das vergessene Kabel nutzlos im Weltmeer, sechs Jahre herrscht wieder das alte, kalte Schweigen zwischen den beiden Kontinenten, die eine Weltstunde lang Puls mit Puls zueinander gepocht. Die einander nahe gewesen einen Atemzug, ein paar hundert Worte lang, Amerika und Europa, sie sind wieder wie seit Jahrtausenden durch unüberwindliche Ferne getrennt. Der kühnste Plan des neunzehnten Jahrhunderts, gestern beinahe schon eine Wirklichkeit, ist wieder eine Legende, ein Mythos geworden. Selbstverständlich denkt niemand daran, das halb gelungene Werk zu erneuern; die furchtbare Niederlage hat alle Kräfte gelähmt, alle Begeisterung erstickt. In Amerika lenkt der Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südamerika jedes Interesse ab, in England tagen ab und zu noch Komitees, aber sie brauchen zwei Jahre, um die dürre Behauptung mühsam festzustellen, daß prinzipiell ein Unterseekabel möglich wäre. Aber von diesem akademischen Gutachten bis zur wirklichen Tat ist ein Weg, den niemand zu beschreiten denkt; sechs Jahre ruht jede Arbeit so vollkommen wie das vergessene Kabel auf dem Grunde des Meeres.
Aber sechs Jahre, wenn auch innerhalb des riesigen Raumes der Geschichte nur ein flüchtiger Augenblick, bedeuten in einer so jungen Wissenschaft wie der Elektrizität ein Jahrtausend. Jedes Jahr, jeder Monat zeitigt auf diesem Gebiete neue Entdeckungen. Immer kräftiger, immer präziser werden die Dynamos, immer vielfältiger ihre Anwendung, immer genauer die Apparate. Schon umspannt das Telegraphennetz den inneren Raum aller Kontinente, schon ist das Mittelmeer durchquert, schon Afrika und Europa verbunden; so verliert von Jahr zu Jahr der Plan, den Atlantischen Ozean zu durchspannen, unmerklich mehr und mehr von dem Phantastischen, das ihm so lange angehaftet. Unabwendbar muß die Stunde kommen, die den Versuch erneut; es fehlt nur der Mann, der den alten Plan mit neuer Energie durchströmt.
Und plötzlich ist der Mann da, und siehe, es ist der alte, derselbe, mit derselben Gläubigkeit und demselben Vertrauen, Cyrus W. Field, auferstanden aus der schweigenden Verbannung und hämischer Verachtung. Zum dreißigsten Male hat er den Ozean überquert und erscheint wieder in London; es gelingt ihm, die alten Konzessionen mit einem neuen Kapital von sechsmalhunderttausend Pfund zu versehen. Und nun ist auch endlich das langgeträumte Riesenschiff zur Stelle, das die ungeheure Fracht allein in sich aufnehmen kann, die berühmte »Great Eastern« mit ihren zweiundzwanzigtausend Tonnen und vier Schornsteinen, die Isambar Brunel gebaut. Und Wunder über Wunder: sie liegt in diesem Jahre, 1865, brach, weil gleichfalls zu kühn vorausgeplant ihrer Zeit; innerhalb zweier Tage kann sie gekauft und für die Expedition ausgerüstet werden.
Nun ist alles leicht, was früher unermeßlich schwer gewesen. Am 23. Juli 1865 verläßt das Mammutschiff mit einem neuen Kabel die Themse. Wenn auch der erste Versuch mißlingt, wenn durch einen Riß zwei Tage vor dem Ziel die Legung mißglückt und noch einmal der unersättliche Ozean sechsmalhunderttausend Pfund Sterling schluckt, die Technik ist schon zu sicher ihrer Sache, um sich entmutigen zu lassen. Und als am 13. Juli 1866 zum zweitenmal die »Great Eastern« ausfährt, wird die Reise zum Triumph, klar und deutlich spricht diesmal das Kabel nach Europa hinüber. Wenige Tage später wird das alte, verlorene Kabel gefunden, zwei Stränge verbinden jetzt die Alte und die Neue Welt zu einer gemeinsamen. Das Wunder von gestern ist die Selbstverständlichkeit von heute geworden, und von diesem Augenblick an hat die Erde gleichsam einen einzigen Herzschlag; sich hörend, sich schauend, sich verstehend lebt die Menschheit nun gleichzeitig von einem bis zum andern Ende der Erde, göttlich allgegenwärtig durch ihre eigene schöpferische Kraft. Und herrlich wäre sie dank ihres Sieges über Raum und Zeit nun für alle Zeiten vereint, verwirrte sie nicht immer wieder von neuem der verhängnisvolle Wahn, unablässig diese grandiose Einheit zu zerstören und mit denselben Mitteln, die ihr Macht über die Elemente gegeben, sich selbst zu vernichten.