50 Jahre Raumfahrt in Backnang -
Partner für die Übertragungstechnik
Telefunken Backnang als Teil der kommerziellen Raumfahrt - Ein Blick auf die vergangenen fünf Jahrzehnte
Backnanger Kreiszeitung vom 22.02.2012
VON HEINZ WOLLENHAUPT
50 Jahre Raumfahrt in Backnang – Wie alles anfing: Professor Werner Nestel, seit 1954 Vorstandsmitglied der damaligen Telefunken GmbH, besuchte im Frühjahr 1961 mehrere US-Kommunikationsfirmen wie General Electric, RCA, Bell Labs oder Hughes Aircraft. Nachdem er am 10. Mai 1961 in einer Vorstandssitzung von Telefunken von seiner USA-Reise berichtet hatte, schrieb er am 5. Juni 1961 an Dr. Günter Wuckel, Leiter des Telefunken-Werkes Anlagen Weitverkehr (AW) in Backnang, von Gesprächen bei Hughes Aircraft mit dem Entwickler Harold Rosen. Hughes glaubt, dass Telefunken ein geeigneter Partner für die Übertragungstechnik wäre.
Der zweite entscheidende Impuls für Raumfahrt in Backnang kam am 24. August 1961 von der Deutschen Bundespost. Die DBP war mit der NASA übereingekommen, sich mit einer Bodenstation an Versuchen zur Nachrichtenübertragung mittels künstlicher Erdsatelliten zu beteiligen. Bereits am 4. September 1961 flogen Dr. Rudolf Steinhart, der spätere Leiter des Richtfunkes in Backnang, und der Informatiker Holz aus dem Bereich Rechnertechnik von Telefunken Konstanz nach New York zu AT&T beziehungsweise Bell Labs und RCA. Dort stellten Ingenieure und Entwicklungsgruppen von Bell Labs das Projekt „TSX-1“ (später „Telstar1“) vor.
Am 4. Dezember besuchte Steinhart auch die Firma Hughes Aircraft in Los Angeles. Während AT&T und RCA Verfechter von umlaufenden Satelliten waren, wies dieses System nach Meinung von_Hughes Aircraft erhebliche kostenintensive Nachteile auf. Dagegen wollte Hughes Aircraft, die bereits einen Auf trag vom Militär über einen Synchron- Satelliten bekommen hatten, ein kommerzielles Synchron -Satelliten -System, wie Clarke es 1945 vorgeschlagen hatte, aufbauen. Dazu suchten sie Partner in Europa. Mit dem von Hughes Aircraft gefertigten Kommunikationssatelliten "Syncom 3" begann am 19. August 1964 das internationale Satelliten-Fernmeldesystem. Der Satellit wurde über dem Pazifik stationiert und konnte Bilder der Olympischen Spiele aus Tokio in die USA übertragen.
Am 6. April 1965 wurde dann nach dem Start des ebenfalls von Hughes Aircraft gefertigten Satelliten "lntelsat I F1" (Spitzname: "Early Bird") der kommerzielle Betrieb aufgenommen.
Die Organisation bei Telefunken AW Backnang
Der Bereich Raumfahrt war 1961 innerhalb Telefunkens noch auf zwei Standorte verteilt: Während sich Rudolf Steinhart, Leiter der Richtfunklaborgruppe RF/E3 in Backnang, um die ihm bekannte Hochfrequenztechnik kümmerte, musste sich die Informationstechnik (IT) in Konstanz mit der Materie der Nachführung befassen, die größtenteils rechnergesteuert vor sich ging. Steinhart wechselte im Frühjahr 1962 in den Richtfunk-Vertrieb. Als sein Nachfolger im Bereich Satellitensysteme wurde Walter Stösser mit der Leitung des Richtfunklabors beauftragt.
Noch vor dem Start des ersten Synchronsatelliten "Early Bird" am 6. April 1965 konnte Telefunken Backnang die Empfänger zur Satelliten-Bodenstation Raisting I liefern. Dank dieser Arbeit wurde die Raumfahrtgruppe um Stösser zu einer selbstständigen Fachgruppe innerhalb des Fachbereiches "Anlagen Weitverkehr und Kabeltechnik" . 1967 wurde Helmut Hartbaum, der bei Wernher von Braun gearbeitet hatte, nach Backnang geholt. Er wurde später Leiter der "Fachgebiet N23 Raumfahrt".
lntelsat IV-das erste Backnanger Satellitenprojekt
Nachdem Hughes Aircraft die Aufträge für die Satelliten von Intelsat I und II durchgeführt hatte, verlor man den Auftrag für Intelsat III. Für Intelsat IV wollte Hughes Aircraft aber wieder den Auftrag erringen. Letztlich - nach einer breit angelegten Studie zum technischen Konzept einer vielfältig nutzbaren Satellitengeneration - wurde der Auftrag zur Entwicklung und zum Bau der vier Intelsat-IV-Satelliten in Höhe von 72 Millionen US-Dollar im Herbst 1968 an Hughes Aircraft mit 12 Unterauftragnehmern in 10 Ländern vergeben - darunter die AEG-Telefunken als einzige deutsche Firma (Auftragsvolumen: 12 Millionen Mark). Zeitweise waren anschließend mehr als 25 AEG-Telefunken-Spezialisten in Los Angeles.
Nach der Erinnerung von Lothar Friederich zeigte das Flugmodell F3 mit dem von AEG-Telefunken in Backnang gebauten Transponder im Vergleich aller vier Satelliten die besten nachrichtentechnischen Ergebnisse. Der Start des Satelliten "lntelsat IV F3" wurde am 20. Dezember 1971 erfolgreich durchgeführt.
Deutsch-französisches Satellitenprojekt "Symphonie"
Für die Olympischen Spielen 1972 in München wollte man einen eigenen Fernsehverteilsatelliten in Betrieb haben. Bereits im Oktober 1966 lieferte die deutsche Kommunikationsindustrie mit Siemens, Telefunken und SEL eine Studie zu einem europäischen Fernsehverteilsatelliten ab. Die politische Seite wollte allerdings kein rein nationales Projekt, sondern ein gemeinschaftliches Satellitenpaar im Rahmen der deutsch-französischen Aussöhnung. Im Juni 1967 unterzeichneten die BRD und Frankreich das Regierungsabkommen über Entwicklung, Bau, Start und Nutzung von zwei Flugmodellen eines experimentellen Fernmeldesatelliten mit dem Namen "Symphonie" und den Bau von zwei Erdfunkstellen. Der Anteil von Telefunken Backnang: Der Sendeteil mit der Wanderfeldröhre TL 4003 aus dem Röhrenwerk von Telefunken Ulm. 1974 und 1975 wurden die beiden "Symphonie"-Satelliten jeweils vom Kennedy-Space-Center in Florida aus ins All geschossen. Neben dem Anteil am Satelliten wurde eine der beiden Bodenstationen, die in Raisting am Ammersee errichtet werden sollte, an Telefunken Backnang als Hauptauftragnehmer vergeben. Die Antennenmechanik wurde von Krupp Industriebau Essen hergestellt, Antriebe und Steuerung kamen von AEG Schiffsbau Wedel, das Speisesystem von Telefunken Backnang/Allmersbach.
Die beiden Projekte OTS und ECS
Bereits 1967 hat die ESRO von der CETS den Auftrag zur Planung eines europäischen Nachrichtensatelliten erhalten. Das von "Intelsat" für die weltweite Kommunikation benutzte Frequenzband 4/6 GHz war in Europa durch Symphonie-Satelliten - wenn auch nur experimentell - genutzt, sodass für künftige Nachrichtensatelliten ein neues 11/14 GHz (Ku-Band) erschlossen werden sollte. ESRO erstellte einen Dreistufenplan. In allen drei Stufen konnte AEG-Telefunken Backnang wesentliche Aufträge erlangen und damit in Deutschland ihre Spitzenposition festigen.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen tangieren noch heute den Fernsehempfang über Satellit. Bereits damals - vor 40 Jahren - sollte dies bestimmt werden und noch heute melden die Fernsehapparate in Europa bei sehr dicken Wolken im Süden "kein Empfang", sofern sie ihre Programme über Satelliten empfangen. Die zweite Voruntersuchung betraf die störungsfreie Übertragung über zwei Polarisationen. Dies erforderte neuartige Antennen.
Ende 1973 bekam das Werk Backnang von der ESRO den Auftrag, diese speziellen Antennen zu entwickeln und zu liefern. Sie wurden in Backnang/Allmersbach im Tal entwickelt und im Sommer 1974 in die Schweiz geliefert. Die Abnahmemessungen waren so überzeugend, dass die ESA infolge davon AEG-Telefunken mit weiteren Aufträgen über große Teststationen für OTS und ECS beauftragte. Nahezu parallel dazu wurden auch Vorstudien zur Auslegung des "Orbital Test Satelliten" (OTS) von der ESRO vergeben. Dieser Satellit sollte den Nachweis erbringen, dass die Übertragung von 2 Polarisationen störungsfrei erfolgen kann. AEG-Telefunken Backnang wurde von der ESRO beauftragt, als Hauptauftragnehmer ein Transponderkonzept so zu definieren, dass diese Aufgaben durchgeführt werden können.
Der „OTS 1“ sollte im September 1977 ins All geschossen werden: Doch die 190 Tonnen schwere Trägerrakete vom Typ Thor-Delta detonierte - in elf Kilometer Höhe, 57 Sekunden nach dem Start.
Nach missglücktem Raketenstart war der zweite Versuch erfolgreich
Am 11. Mai 1978 wurde dann der "OTS 2" in den Orbit geschossen – dieses Mal ohne Probleme. Er versah bis zum Januar 1991 störungsfrei seinen Dienst.
Zusätzlich zum Bau des Transponders der OTS-Satelliten erhielt Backnang 1975 als Hauptauftragnehmer von der ESA und Telespazio Rom den Auftrag zur Errichtung der Leitbodenstation "Satellite Control and Test Station" (OTS-SCTS) in den Abruzzen. Die ESA beauftragte ein Industriekonsortium mit dem Bau von fünf ECS-Satelliten. Wie im OTS-Programm wurde dabei Systemkonzeption, Entwicklung, Bau und Integration des Transponder-Untersystems der AEG-Telefunken Backnang übertragen. Betreiber der ECS-Satelliten wurde die 1977 gegründete zwischenstaatliche Organisation "European Telecommunications Satellite Organization" (Eutelsat) mit Sitz in Paris. Am 16. Juni 1983 konnte der "ECS 1", der von Eutelsat dann "Eutelsat 1 F1" genannt wurde, mit der europäischen Neuentwicklung „Ariane 1" gestartet werden.
Insgesamt wurden vier ECS-Satelliten erfolgreich in den Orbit gebracht. Über 15 Jahre versahen die neuen Transponder ihren Dienst. Wie schon beim OTS-Satelliten wurde auch die Leitstation für die ECS-Satelliten von AEG-Telefunken Backnang errichtet.
TV-Sat und DFS Kopernikus festigten die Kompetenz
Die beiden nachfolgenden Großprojekte TV-Sat und DFS Kopernikus festigten die Kompetenz der Raumfahrtaktivitäten in Backnang. Während das Bodenstationsgeschäft Anfang der 90er-Jahre auf Wunsch von Bosch eingestellt werden musste, wurde die Raumfahrt 2001 zu Tesat als selbstständig agierende Gesellschaft in der EADS Astrium umfirmiert. Die Firma Tesat-Spacecom hat sich seitdem zu Europas größtem Gerätelieferanten im Bereich Satellitenkommunikation mit über 1200 Mitarbeitern entwickelt.
Hintergrund
Geostationärer Satellit: Von der Idee bis zum Start
- Im Februar 1945 veröffentlichte Arthur C. Clarke von der britischen interplanetarischen Gesellschaft in einer englischen Fachzeitschrift einen Leserbeitrag über eine friedliche Nachnutzung der deutschen "Vergeltungswaffe V2" mit deren offiziellen Bezeichnung "Rakete A4" zur Erforschung der Ionosphäre. Zudem erwähnte er erstmals die Möglichkeit, einen Satelliten in einer Erdumlaufbahn zu positionieren, die ihn von der Erde aus gesehen als quasi frei stehend erscheinen lässt. Im Oktober 1945 skizzierte er dann den Vorschlag einer weltweiten Punkt-zu-Punkt-Kommunikation mit nur drei Satelliten. Damit beschrieb Clarke 1945 in wenigen Worten das 20 Jahre später beginnende weltweite Intelsat-System, das mit drei Satellitenstandorten einen weltweiten Telefonverkehr ermöglichte.
- Bis Mitte der 1950er-Jahre wurde der Fernsprechverkehr zwischen Europa und USA über Kurzwellenfunk abgewickelt. Erst im September 1956 konnte AT & T, die weltweit größte Telefongesellschaft, zwischen Schottland und Neufundland ein 3600 Kilometer langes transatlantisches Telefonkabel für 36 Telefonkanäle in Betrieb nehmen. Schon drei Jahre später kam ein zweites transatlantisches Kabel hinzu, das die Sprechkapazität auf knapp 100 Kanäle erweiterte. AT & T vereinbarte mit der NASA den Start eines Ballonsatelliten, um Übertragungsversuche von Kalifornien im Westen der USA zur Bell-Station im Osten zu machen. 1960 brachte eine Rakete den ersten - noch passiven - zivilen Nachrichten-Satelliten "Echo 1A" in eine etwa 1500 Kilometer hohe Umlaufbahn. Der Satellit war am Abendhimmel vom Westen kommend als umlaufender Stern erster Ordnung zu sehen - wie heutzutage die Raumstation ISS.
- Die nächsten beiden Stufen der Entwicklung führten nun zum Bau eines Satelliten und nach dessen Start zur nachrichtentechnischen Erprobung. Im Juli 1962 wurde der von Bell gebaute Satellit "Telstar 1" mit einer Rakete auf seine elliptische Umlaufbahn geschossen. Noch im selben Monat kam es zur Übertragung der ersten Live-Fernsehsendung zwischen Europa und den USA.
- Hughes Aircraft in Los Angeles hatte den Satelliten "Syncom" in Planung und Bau, der am 14. Februar 1963 als erster geostationärer Satellit gestartet werden konnte. Erfolgreich war jedoch erst "Syncom 3", der am 19. August 1964 an den Start ging und die Olympischen Spiele aus Tokio über den Pazifik in die USA übertrug.
(Quelle: Backnanger Kreiszeitung, mit freundlicher Genehmigung Verlag Fr. Stroh, Backnang)